12 April 2009

Spät, aber mit Wucht

Lange blieb Brasilien von der Krise verschont - Jetzt beginnt eine Entlassungswelle - Hoffnung ruht auf dem Konsum

São Paulo - Als sich vor der Zentrale des Flugzeugbauers Embraer in São José dos Campos eine Gruppe von Männern versammelt, macht sich schnell Wut unter ihnen breit. Früher gingen sie hier, rund 100 Kilometer von São Paulo entfernt, jeden Morgen an ihre Arbeitsplätze. Mittlerweile ist ihnen der Zutritt versagt. Ein hohes Eisengitter schirmt die Einfahrt ab, und Polizisten mit Maschinenpistolen versuchen, die Männer auf Distanz zu halten. Deren Tage beginnen nun mit Protesten.

Mitte Februar hatte der viertgrößte Flugzeugbauer der Welt angekündigt, 4200 Beschäftigte zu entlassen, rund 20 Prozent der Belegschaft. Ein Arbeitsgericht hat die Entlassung zwar gestoppt. Doch die Stellenstreichungen scheinen unumgänglich. Es ist der bislang größte Arbeitsplatzabbau eines brasilianischen Unternehmens. Und es ist ein Vorbote für das, was auf Lateinamerikas größte Volkswirtschaft in den kommenden Monaten zukommen könnte.

Lange schien Brasilien eines von wenigen Ländern zu sein, das von der weltweiten Krise verschont bleiben würde. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva versprach für 2009 vier Prozent Wachstum - nur ein Prozent weniger als im Vorjahr. Und auch das Gros der Ökonomen nährte die Hoffnung, dass die weltweiten Turbulenzen vorüberziehen könnten. Denn anders als die Länder Europas oder die USA, so erklärten sie, sei Brasiliens Wirtschaft mit nur 13 Prozent Exportanteil gegen globale Schocks gefeit. Und auch das Bankensystem sei stabil, nachdem es in den 90er-Jahren reformiert wurde.

Doch mehr und mehr zeigt sich, dass die Abkoppelungstheorie selbst für eine relativ geschlossene Wirtschaft wie Brasilien nicht gilt. Denn die Krise hat mittlerweile den Binnenmarkt erreicht, das wirtschaftliche Rückgrat Brasiliens. Die US-Bank Morgan Stanley warnt schon seit Wochen vor einer Rezession. Und Experten wie der Lateinamerika-Chefökonom der WestLB, Roberto Padovani, die noch an Wachstum glauben, sehen sich gezwungen, ihre Prognosen herunterzuschrauben. Statt 2,1 Prozent Wachstum erwartet Padovani jetzt nur noch ein Prozent.

Die Dynamik des weltweiten Abschwungs droht einen der letzten Dominosteine zu Fall zu bringen. Die Krise erreichte Brasilien zwar spät, doch dann mit Wucht. Ende vergangenen Jahres brach die Autoproduktion um 54 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ein. Die Gesamtwirtschaft bekam dies unmittelbar zu spüren. Von Oktober bis Dezember schrumpfte die Wirtschaft erstmals um 3,2 Prozent - der größte Rückgang in mehr als zehn Jahren.

Das Tempo des Abschwungs hat viele Brasilianer überrascht. Doch Ökonomen wie Zeina Latif von der ING Bank in São Paulo wollen sich von der Krisenstimmung nicht anstecken lassen. Sie gehört zu den Optimisten, die Brasilien bald wieder auf der Überholspur sehen. Denn die Krise, so erklärt sie, habe längst nicht alle Sektoren erfasst.

Ein Blick auf jüngste Wirtschaftsdaten ergibt tatsächlich ein gemischtes Bild. Betroffen sind vor allem die Auto-, Elektro- und die Bauindustrie sowie die Rohstoff- und Agrarproduzenten. Sektoren, die entweder stark vom Export oder von Krediten abhängig sind. Der Konsum scheint dagegen weitgehend unbeeinträchtigt. Die Nahrungs- und Textilindustrie musste bislang keinen Einbruch beklagen.

So ist es vielleicht gar nicht überraschend, dass einige deutsche Unternehmen gerade jetzt Brasiliens Absatzmarkt für sich entdecken. "Viele Firmen spielen mit dem Gedanken, in Brasilien einzusteigen", sagt Karlheinz Naumann. Er lebt und arbeitet seit mehr als 20 Jahren in Brasilien. Für die Industrie-und Handelskammer in Essen leitet er ein Firmenpool, mehr als 150 Unternehmen hat er den Markteintritt in Brasilien geebnet. Jüngste Gespräche hätten gezeigt, dass "viele Firmen hoffen, den Umsatzeinbruch in Deutschland mit Aufträgen aus Brasilien kompensieren zu können", sagt Naumann.

Die Hoffnung, Brasilien könne eine Art Rettungsboot in der Krise werden, könnte jedoch leicht enttäuscht werden. Denn täglich treffen Meldungen ein, die zeigen, dass der heimische Markt längst nicht so robust ist, wie viele hoffen. Die Kündigungswelle ist im vollen Gang. Allein im Dezember und Januar wurden 755 000 Arbeitsplätze abgebaut. Im Januar stieg die Arbeitslosenrate laut Statistikamt auf 8,2 Prozent, von 6,8 Prozent im Dezember. Während Ökonomen wie Zeina Latif davon ausgehen, dass damit der Höhepunkt bereits erreicht ist, sind andere skeptischer. "Das Schlimmste steht erst noch bevor", sagt der Chefökonom von Morgan Stanley, Marcelo Carvalho. "Wir sind gerade erst am Anfang des Stellenabbaus." Bis Mitte des Jahres sieht er die Arbeitslosigkeit auf zehn Prozent klettern.

Längst sind es nicht mehr nur die gebeutelten Auto- und Bauindustrien, die ihre Arbeiter auf die Straße setzen. Über alle Branchen hinweg werden Stellen gestrichen. Allein mit der Finanzkrise und der Kreditklemme sei dieser drastische Stellenabbau nicht zu begründen, erklärte das staatliche Forschungsinstitut Instituto de Pesquisa Económica Aplicada (IPEA). Nach ihrer Ansicht ist die schlechte Stimmung für den Rückgang verantwortlich. Bis Mitte des Jahres, so prognostiziert Padovani, werde der Stellenabbau und sinkende Reallöhne verstärkt im Binnenmarkt zu spüren sein.

Selbst die Regierung ist vorsichtiger geworden. Ein Wachstum von vier Prozent postuliert sie jetzt nur noch als "Ziel". Die Mitte-Links-Regierung von Lula hat den Ernst der Lage erkannt. Mit Finanzspritzen von rund 100 Mrd. US-Dollar für Währung und Geldmarkt haben Regierung und Zentralbank in den vergangenen Monaten versucht, der Kreditklemme entgegenzuwirken. Und Steuersenkungen von rund 3,5 Mrd. Dollar sollen dazu beitragen, der angeschlagenen Industrie wieder auf die Sprünge zu helfen. Zur Wiederbelebung der Bauwirtschaft hat Lula zudem jüngst die Errichtung von einer Million neuen Häusern angekündigt.

Doch all dies zeigt nur begrenzte Wirkung. Die Kreditklemme gibt es nach wie vor. Im Januar sind die Investitionen um rund 13,3 Prozent gesunken. Seit Anfang des Jahres konnte sich zwar die Autoindustrie wieder etwas erholen. Doch die Regierung will die Steuererleichterungen Ende März auslaufen lassen. Ein Produktionseinbruch auf Raten könnte die Folge sein. Insgesamt sei das Wachstumsprogramm zu klein und der finanzielle Spielraum der Regierung zu eng, um die Konjunktur ankurbeln zu können, sagt WestLB-Ökonom Padovani. Das Einzige, was damit erreicht werde, sei, den Abschwung zu mildern und hinauszuzögern.

Autorin: BIRGIT JENNEN
Quelle: DIE WELT 7. April 2009

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